Israelkritik und Judenfeindschaft

Hauptziel des Modellprojekts „Israelkritik und Judenfeindschaft“, das im Rahmen des BMFSFJ Bundesprogramm “Demokratie leben!” gefördert wird, ist die Entwicklung, Erprobung und Verbreitung von neuen Präventions- und Fortbildungsangeboten gegen religiös, politisch wie sozial bedingte Formen von aktuellem Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.


Ausgangspunkt der zu entwickelnden Präventionsangebote sind die Selbstdeutungen der Bürger bzw. der verschiedenen Zielgruppen unserer Kooperationspartner. Alle Angebote werden daher auf der Grundlage von Befragungen konzipiert, die der empirischen Erfassung von Israelkritik und aktuell virulentem Antisemitismus vor Ort dienen. Befragt werden Muslime und Christen, aber auch Religionskritiker und säkular, links wie rechts orientierte Menschen mit wie ohne Zuwanderungsgeschichte.


BMFSFJ


Laufzeit: 01/2015 - 12/2019

Projektleitung: Dipl.-Soz.-Wiss. Peter Krumpholz







Projektteam



Publikationen



Kooperationen

(1) Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein
(2) Evangelisches Bildungswerk im Kirchenkreis Duisburg
(3) Katholische Familienbildungsstätten Duisburg
(4) DITIB Bildungs- und Begegnungsstätte zu Duisburg-Marxloh
(5) VHS der Stadt Duisburg
(6) VHS der Stadt Moers
(7) VHS-Zweckverband Alpen-Rheinberg-Sonsbeck-Xanten,
(8) IMBSE – Institut für Modelle beruflicher und sozialer Entwicklung GmbH, Duisburg
(9) Schulpsychologische Beratungsstelle der Stadt Duisburg
(10) Duisburger Schulen, Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen, Kindertagesstätten der Religionsgemeinschaften und Kirchen, ErzieherInnen, Eltern und Kinder
(11) Tausche Bildung für Wohnen e.V., Duisburg-Marxloh
(12) Internationales Zentrum des Kommunalen Integrationszentrums der Stadt Duisburg

STRATEGISCHE PARTNER:

(13) VHS der Stadt Duisburg
(14) Kommunales Integrationszentrum der Stadt Duisburg
(15) Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, NRW



Detaillierte Projektbeschreibung

1. Lokale Ausgangslage und Handlungsbedarf


Dass der Nahostkonflikt Auswirkungen in die Ruhrgebietsregion habe, mag befremdlich erscheinen, wie der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg / Mülheim / Oberhausen unlängst feststellte. Dieser kandidierte 2012 in Duisburg für die OB-Wahl und wurde daraufhin mit sowohl indiskutablen anonymen Nachrichten (in Israel kandidiere auch kein Deutscher für politische Ämter) als auch Reaktionen der lokalen Presse konfrontiert, die allein von dem „jüdischen“ Kandidaten wissen will, wie dieser seinen Wahlkampf finanziere. Dem ostentativen Reflex, man sei nicht antisemitisch, begegnet man auch in der Duisburger Stadtgesellschaft sehr zuverlässig. Nichtsdestoweniger werden jüdische Mitbürger schnell als legitime Vertreter, mithin als Verantwortliche für israelische Politik vereinnahmt.


Für die Verhältnisse vor Ort sind in diesem Zusammenhang eine Reihe unrühmlicher Ereignisse festzustellen: Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Rat der Stadt Duisburg – in dem neuerdings auch (kooperierende) Abgeordnete der NPD, PRO NRW und AfD vertreten sind – ruft zu einem Boykott israelischer Produkte auf, im Rahmen einer von Milli Görüş initiierten pro-palästinensischen Großdemonstration wird unter dem „Druck der Straße“ als „deeskalierende Maßnahme“ der Polizei die israelische Flagge auf einem Anwohnerbalkon entfernt.


Dies mag genügen, um anzudeuten, dass Phänomene des sekundären Antisemitismus, die in Form und Inhalt als israelkritische Äußerungen daherkommen, in der Region Duisburg existent sind. Neben dem erwartbaren rechtsextremen Antisemitismus sind judenfeindliche Stimmungen auch im linken Spektrum von der dafür oft kritisierten NRWLinkspartei bis hin zu revolutionär-marxistischen und autonomen Gruppen mit antiimperialistischer, internationalistischer und anti-faschistischer Ausrichtung sowie bei Muslimen und Migranten feststellbar. Die Argumentationsmuster erweisen sich nicht erst auf den zweiten Blick leider allzu oft als antizionistisch resp. außenpolitisch verbrämte judenfeindliche Stereotype. Es zeigt sich, dass Antisemitismus, der sich seit den Zuspitzungen in Gaza als offener Antisemitismus bis hin zu Judenhass manifestiert, in rechts und linksextremen Milieus ebenso wie in radikal-religiösen Gruppierungen grassiert. Daneben gibt es weiterhin einen verdeckten Antisemitismus, wie er sich vor allem in leichtfertig geäußerten, betont „legitimen“ israelkritischen Positionen der vermeintlich aufgeklärten bürgerlichen Mitte bis hin zu latent judeophoben Ressentiments artikuliert. Diese schwierigen vorurteilsbeladenen Generalisierungen sind meist nur notdürftig verklausuliert. Es kann vermutet werden, dass dies zum einen dem Reflex sog. Sozialer Erwünschtheit, zum anderen aber schlichter Ahnungslosigkeit und verfehlter Eigenwahrnehmung geschuldet ist. Aktueller Antisemitismus in der Region begegnet also nicht nur als exhibitionistischer Krawall (z.B.: Milli Görüş und Salafisten, die in Kommunen mit hohem Anteil muslimischer BürgerInnen ein Aktionsfeld vermuten), sondern auch auf vorgeblich pro-palästinensischen Solidaritätskundgebungen.


Insofern in diesem Projekt die aktuellen Formen von Antisemitismus in den Blick genommen werden, sind die ‚herkömmlichen‘ Formen von Antisemitismus (christlicher Antijuda-ismus, biologistisch definierter Rassismus, Holocaustleugnung oder-relativierung) möglicherweise nicht mehr vordergründig zu gewichten. Wir gehen vielmehr von einem neu zu definierenden, mithin „tertiärem“ Antisemitismus aus, der die Trennlinie zwischen „rechtem“ und „linkem“ Antisemitismus aufzulösen scheint. Denn globalisierungskritische, generell antiwestliche, antiimperialistische, USAkritische Stimmungen sind unter der phantasierten Annahme, hier seien Israel, Juden oder Wall Street wirksam, nicht nur in linksradikalen oder neonationalsozialistischen Verschwörungsnarrativen nachweisbar, sondern auch in linksliberalen oder konservativen Milieus nicht per se auszuschließen. Letzterer Aspekt betrifft auch die Mitte der Gesellschaft. Antisemitismus beginnt nicht erst mit manifesten Übergriffen, sondern nimmt seinen Anfang im Alltag in subtilen Formen von Ressentiments, die der Gesamtheit der Juden (als vermeintliche Repräsentanten Israels) verborgene Intentionen oder konkrete Handlungen zuordnet. Aktuelle Formen des Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erfahren im Prozess der Globalisierung und damit einhergehender Marginalisierungserfahrungen in weiten Teilen der Gesellschaft vehementen Auftrieb. Dies gilt insbesondere für die Montanregion Duisburg, die in besonderer Weise von Arbeitslosigkeit, Armut und empfundener Ausgrenzung geprägt ist. Duisburg ist aufgrund der Heterogenität seiner BürgerInnen ein „Schmelztiegel“ kultureller und religiöser Vielfalt und somit beispielhaft für die Integrationsanforderungen einer modernen Zivilgesellschaft, was zugleich ein nicht zu vernachlässigendes demokratiegefährdendes Potential birgt, welches u. E. vor allem infolge grundlegender Alteritätserfahrungen, kollektivierender Wahrnehmungsmuster sowie Projektion des Negativ-Erlebten aktualisiert wird. Insofern Fremdwahrnehmung immer durch die Auslegung eigener Existenzerfahrungen mitbestimmt wird, können Präventions und Fortbildungsangebote gegen sowohl alte als auch neue, latente oder manifeste Formen von Antisemitismus ihre Wirksamkeit nur dort entfalten, wo sie an der jeweiligen Erfahrungsrealität des Einzelnen, in besonderer Weise bei adoleszenter Selbstverortung ansetzen. Methodisch kommen hierfür vor allem pädagogische Konzepte in Betracht, denen ein multiperspektivischer, subjektorientierter, partizipativer sowie diversityorientierter Ansatz zugrunde liegt und die hier modellhaft entwickelt, erprobt und verbreitet werden sollen. Entsprechend wählen wir unsere Kooperationspartner aus, die das Spektrum der schulischen, religiösen sowie politischen Bildungsarbeit repräsentieren. Ebenso wertvoll ist der darüber gewonnene Zugang zu den jeweiligen Teilnehmerkreisen unserer Partner, der sowohl in die Mitte als auch zu den Rändern der Gesellschaft reicht.


2. Hauptziel des Modellvorhabens


Hauptziel des Vorhabens „Israelkritik und Judenfeindschaft“ ist die Entwicklung, Erprobung und Verbreitung von neuen Präventions- und Fortbildungsangeboten gegen religiös, politisch wie sozial bedingte Formen von aktuellem Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.


Ausgangspunkt der zu entwickelnden Präventionsangebote werden stets die Selbstdeutungen der BürgerInnen bzw. der verschiedenen Zielgruppen unserer Kooperationspartner sein. Alle Angebote werden daher auf der Grundlage von Befragungen konzipiert, die der empirischen Erfassung von Israelkritik und aktuell virulentem Antisemitismus vor Ort dienen. Befragt werden Juden, Muslime und Christen, aber auch Religionskritiker und säkular, links wie rechts orientierte Menschen mit wie ohne Zuwanderungsgeschichte. Zweck der Erhebung ist es herauszufinden, welche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gruppen, Traditionen und Ausprägungen des Antisemitismus es vor dem Hintergrund welcher Selbstdeutungen, Lebensgeschichten und Erfahrungen vor Ort gibt. Beachtet wird also nicht nur Feindseligkeit gegen Juden, sondern auch Muslim- oder Deutschenfeindlichkeit.


Die Präventionsangebote werden im Kooperationsverbund mit und für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure erstellt, die in der interreligiösen und interkulturellen Bildungs-, Integrations- und Sozialarbeit tätig sind. Gemeinsam mit den PädagogInnen und SozialarbeiterInnen werden lebensweltnahe und erlebnisorientierte Angebote für die unterschiedlichen Zielgruppen (u.a. Kinder, Schüler, Eltern, Erzieher, Lehrer, Jugendliche und Erwachsene) der Bildungseinrichtungen unseres Kooperationsverbundes entwickelt und in herkunftsheterogenen wie – homogenen Settings erprobt. Die erprobten Angebote werden über Fortbildungsangebote für Multiplikatoren lokal verbreitet, in die Regelstrukturen unserer Kooperationspartner überführt und anschließend über ihre Landes- und Bundesverbände durch weitere Multiplikatorenschulungen und Implementationsbegleitung landes- und bundesweit verbreitet.


3. Methodisches Vorgehen


Negative Fremdbestimmungen erfolgen selten aus reiner Boshaftigkeit. Zumeist beruhen sie auf einer Vereinseitigung oder Verabsolutierung dessen, was persönlich als gut, wertvoll, sinn- und zweckhaft für das eigene Leben und auch für das Miteinander in der Gesellschaft empfunden wird. Kollektive Wahrnehmungsmuster, die allzu häufig über eine soziale, politische oder religiöse Polarisierung (arm vs. reich, demokratisch vs. autoritär, gläubig vs. ungläubig etc.) zu positiver Selbst- und negativer Fremdbestimmung bis hin zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit führen, basieren immer auch auf persönlichen Werten, die vorschnell verallgemeinert oder ethnisiert werden.


Befragungen, die das RISP in der Vergangenheit durchführte, haben uns zudem gezeigt, dass kollektive Wahrnehmungsmuster (über z.B. Juden, Christen, Muslime, Deutsche, TürkInnen, MigrantInnen) unter allen Bevölkerungsgruppen in Duisburg weit verbreitet sind. Zugleich haben sie uns darauf aufmerksam gemacht, dass die konkreten Glaubensformen, Selbstdeutungen und Wertorientierungen der meisten Menschen relativ unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Staatsan- und Religionszugehörigkeit sind. In aller Regel weisen die BürgerInnen entgegen kollektiver Wahrnehmungsmuster und unterstellter Homogenität ihrer Gruppe somit gruppenintern ungleich mehr Unterschiede und gruppenübergreifend mehr Gemeinsamkeiten auf, als ihnen aufgrund ihrer kollektiven Wahrnehmungsmuster bewusst ist. Dies kann pädagogisch selbst in vermeintlich homogenen Settings genutzt werden, indem Teilnehmenden zu Beginn einer Maßnahme stets die Möglichkeit eröffnet wird, sich über ihre Grundwerte und Güterorientierungen auszutauschen und somit einen Überblick über die Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der Werteorientierungen in ihrer Gruppe zu bekommen. Die aktuell erlebte Erfahrung, dass es in einer Gruppe mehr Unterschiede und gruppenübergreifend mehr Gemeinsamkeiten als gedacht gibt, ist emotionale Voraussetzung dafür, um kognitiv durch Wissensvermittlung kollektive Identifizierungen u. Stereotype wirkungsvoll hinterfragen zu können.


Daher wird unsere methodische Herangehensweise darin bestehen, dass wir 1. nicht von Kollektivkategorien, sondern von den Selbstdeutungen der Teilnehmenden ausgehen, 2. diese empirisch erfassen, 3. dabei in einem Netzwerk von sozialen, beruflichen, politischen und religiösen Bildungsanbietern in der Kommune zusammenarbeiten, 4. bei der Entwicklung der Maßnahmen pädagogisch an die empirischen Ergebnisse und Erfahrungen der Bildungsträger anknüpfen, 5. die Maßnahmen zunächst in den Einrichtungen der Kooperationspartner erproben, 6. sodann überarbeiten und in die Regelstrukturen der Kooperationspartner überführen, bevor 7. auf der Basis dieser Erfahrungen das RISP und die Kooperationspartner landes- und bundesweite Fortbildungen mit Multiplikatoren durchführen und diese bei der Anwendung ihrer ersten Maßnahmen supervidierend unterstützen und bei der Implementation beraten.


4. Fachlicher Bedarf, Innovationsgehalt und Nutzen des Modellvorhabens


Fast siebzig Jahre nach der Shoah ist der Bedarf an wirksamen Maßnahmen zur Prävention von Antisemitismus (Antisemitismus) dringlicher denn je. Denn Antisemitismus ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft in allen ideologischen Erscheinungsformen – seien es religiöse, politische, soziale, nationalistische, ökonomische oder rassistische – nach wie vor virulent.


Dabei lassen sich zwei Varianten ausmachen: die verdeckte Form von Andeutungen sowie die offene Form von Hassbildern und antisemitisch motivierter Gewalt. Beide Varianten zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedlichste politische Lager verbindet. Antisemitische Erklärungsmuster sind nach wie vor integraler Bestandteil rechtsextremer Ideologie. Mittlerweile lassen sich auch ideologische Schnittmengen mit dem Linksextremismus sowie dem Islamismus ausmachen, so dass Antisemitismus nicht mehr länger als ein vorwiegend in der rechtsextremen Szene anzutreffendes Phänomen angesehen werden kann. Insbesondere der Nahostkonflikt dient Islamisten, Rechts- und Linksradikalen als Projektionsfläche antisemitischer Erklärungsmuster. Über die radikalen Ränder hinaus sind judenfeindliche Tendenzen auch in der Mitte der Gesellschaft zumindest latent vorhanden und brechen sich Bahn in Kritik an Kapitalismus, den USA, dem Westen, die teils mit legitimer, teils vermeintlich legitimer Israelkritik kurzgeschlossen wird.


Die antisemitischen Übergriffe der letzten zehn Jahre zeigen, dass Antisemitismus insbesondere bei Jugendlichen mit muslimischen Sozialisierungskontexten zunehmend Verbreitung findet, wobei antisemitische Stereotype durch subjektiv empfundene Benachteiligung und Ausgrenzung aufrechterhalten und verstärkt werden. Pädagogische Ansätze zur Prävention antisemitischer Denkmuster bei Kindern und Jugendlichen müssen demnach deren Diskriminierungserfahrungen aufgreifen. Daneben gilt es, den interreligiösen Dialog in Form eines lebensweltnahen und lebendigen Austausches von jüdischen und nicht-jüdischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte unter Einbeziehung aller relevanten Bezugssysteme, Akkulturationsinstanzen und Akteure zu fördern.


Die vielfältigen neuen Erscheinungsformen des Antisemitismus von den extremistischen Rändern bis in die Mitte der Gesellschaft hinein stellt die Präventionsarbeit vor neue Herausforderungen. In der pädagogischen Praxis wurde das Thema als historisches (christlicher Antijudaismus) oder modernes Phänomen (Nationalsozialismus) behandelt. Entsprechende Bildungsangebote dienten vornehmlich der Vermittlung von historischem Wissen. Unter dem Eindruck fremdenfeindlicher Übergriffe hat sich seit den 1990er Jahren in Deutschland zudem eine gegen Rechtsextremismus und Rassismus orientierte Pädagogik etabliert, die sich gegen Antisemitismus wendet, mitunter ohne diesen eigens zu thematisieren. Im Zentrum stehen dabei Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wozu auch Begegnungsprojekte zum Abbau von Vorurteilen und Ressentiments gegen Juden gehören. Nicht unumstritten ist indes die Annahme, dass der Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen zur Reduktion von Vorurteilen beiträgt. Begegnung und Wissensvermittlung über den oder die „Andere(n)“ allein kann auch zum Einfallstor für Differenzkonstruktionen werden, die es gerade zu verhindern gilt.


Während bisherige Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen „über“ oder „gegen“ Antisemitismus zumeist vom Gegenstand her, also der historischen Genese und den tradierten Formen von Antisemitismus, konzipiert sind, wird in diesem Projekt ein lebensweltlicher Ansatz zugrunde gelegt, der von der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Jugendlichen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Diskriminierung, Benachteiligung und Ausgrenzungserfahrung ausgeht. Die zu entwickelnden Präventionsmaßnahmen gegen aktuelle judenfeindliche Ressentiments werden zudem multi-perspektivisch eingebettet in Konzepte, die der Diversität in der Gesellschaft verbreiteter rassistischer, fremdenfeindlicher und demokratiedistanter Stereotype Rechnung tragen. Insofern nicht nur direkt oder allein die Überwindung von Judenhass – gegenüber diesem sich allzu viele reflexhaft verwahren – zum Projektgegenstand erhoben wird, soll der Sensibilisierung und dem Abbau antisemitischer Stimmungen auf neue Weise Vorschub geleistet werden.


Erstmals werden in einem Kooperationsverbund aus Wissenschaft und Praxis mit und für staatliche und zivile Akteure aus Politischer Bildung und Sozialarbeit empiriegestützt erlebnisorientierte Modellmaßnahmen gegen Judenhass und alle anderen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entwickelt, erprobt sowie regional, landes- und bundesweit verbreitet.


5. Kooperation und Vernetzung


KOOPERATIONSPARTNER sind staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure:


(1) Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein K.d.ö.R. (2) Evangelisches Bildungswerk im Kirchenkreis Duisburg (3) Katholische Familienbildungsstätten Duisburg (4) DITIB Bildungs- und Begegnungsstätte zu Duisburg-Marxloh(5) VHS der Stadt Duisburg (6) VHS der Stadt Moers(7) VHS-Zweckverband Alpen-Rheinberg-Sonsbeck-Xanten, Niederrhein(8) IMBSE – Institut für Modelle beruflicher und sozialer Entwicklung GmbH, Duisburg(9) Schulpsychologische Beratungsstelle der Stadt Duisburg(10) Duisburger Schulen, Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen, Kindertagesstätten der Religionsgemeinschaften und Kirchen, ErzieherInnen, Eltern und Kinder(11) Tausche Bildung für Wohnen e.V., Duisburg-Marxloh(12) Internationales Zentrum des Kommunalen Integrationszentrums der Stadt Duisburg


STRATEGISCHE PARTNER:


(13) VHS der Stadt Duisburg(14) Kommunales Integrationszentrum der Stadt Duisburg (15) Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, NRW


Der Wirkungskreis unserer Kooperationspartner ist zunächst kommunal und regional. Unsere Kooperationspartner 1-7 haben indes über ihre Landes- und Bundesverbände einen landes- und bundesweiten Wirkungskreis, den wir in den Projektphasen 4 und 5 nutzen werden.


Hauptziel der Kooperationen ist, die Präventions- und Fortbildungsangebote mit und für die Kooperationspartner 1-11 zu entwickeln, zu erproben und zu verbreiten. Bezüglich der Arbeitsstrukturen sei ergänzt, dass eine Steuerungsgruppe für diejenigen Kooperationspartner gegründet wird, mit denen eine besonders intensive Kooperation erfolgt. Erfahrungsgemäß kommen im Verlaufe der Durchführung eines Modellprojekts weitere Kooperationspartner hinzu, wir denken hierbei an Begegnungsstätten von freien Trägern, Wohlfahrtsverbänden, Vereinen und Migrantenselbstorganisationen sowie Elternvereine.


6. Zielgruppen und deren Erreichung


Die zu erreichenden Zielgruppen sind im Wesentlichen parallel zur Kette der Sozialisationsinstanzen ausgewählt worden und lassen sich für die einzelnen Kooperationspartner wie folgt konkretisieren:


(I) Schulpsychologische Beratungsstellen: SchulpsychologInnen -> Schulsozialarbeiterinnen -> LehrerInnen -> SchülerInnen DozentInnen -> Kursteil nehmende Verbreitung: Landesverband; Dt. Volkshochschul-Verband


(II) Politische Bildungsträger: Volkshochschulen: Fachpädagogische Bereichsleitung -> DozentInnen -> Kursteil nehmende Verbreitung: Landesverband; Dt. Volkshochschul-Verband


(III) Religiöse Bildungsträger: Geschäftsführung —>Einrichtungsleitung —>Gruppen-/Kursleitung —>Kitas —>Kinder/Jugendliche


(IV) Sozialunternehmer/ Stadtteilbezogene Sozialarbeit: Streetworker / Sozialarbeiter Bildungs-Paten —>Kinder (vor allem aus benachteiligtem, bildungsfernem und durch hohen Zuwanderungsanteil geprägtem Milieu)


(V) Berufliche Bildungsträger: Fachpädagogisches Personal —>Teilnehmende und Lernende


(VI) Kommunale Institutionen: Integrationspolitische ReferentInnen -> integrations -> u. bildungspolitische Netzwerker Verbreitung: Netzwerk Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte und Elternvereine NRW; Kommunale Integrationszentren und Landesweite Koordinierungsstelle NRW; Städteinitivative Integration.Interkommunal


Über die Auswahl unserer Kooperationspartner, die von Projektbeginn an partizipativ in die Projektarbeit eingebunden werden, können passgenaue, bedarfsgerechte Präventions- und (Fort-) Bildungsangebote in den wesentlichen Sozialisationsinstanzen vor Ort entwickelt und erprobt sowie ggf. modifiziert und schließlich landes- und bundesweit verbreitet werden. Die Projektarbeit setzt demnach genau dort an, wo Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene über einen längeren Zeitraum sozialisiert und wo antisemitische und fremdenfeindliche Vorurteile und Einstellungen ausgebildet und manifest werden.


Obschon Präventionsangebote für Kinder und junge Menschen, Eltern und Erwachsene gegen religiös, sozial oder politisch bedingte Formen von aktuellem Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aufgrund kollektiver Wahrnehmungsmuster erstellt werden, bilden nicht diese selbst, sondern staatliche bzw. kommunale und zivilgesellschaftliche Akteure, die in der Bildungs- und Integrationsarbeit sowie der Frühpädagogik und Elternarbeit tätig sind, die Hauptzielgruppe. Diese wurden schon bei der Konzipierung der vorliegenden Interessenbekundung und somit bereits in die Frühphase des Vorhabens mit einbezogen.


Wichtige Akteure der Hauptzielgruppe, zu der aus vorhergehenden Modellprojekten seit vielen Jahren erprobte und belastbare Kooperationsbeziehungen bestehen, werden sich von Projektbeginn an über alle fünf Phasen des Vorhabens durch anteilige personale Mitarbeit beteiligen. Sowohl Entwicklung wie Erprobung als auch Verbreitung, Überführung in Regelstrukturen und Herstellung der landes- und bundesweiten Übertragbarkeit und Verbreitung können daher in enger Zusammenarbeit mit der Hauptzielgruppe erfolgen.


Über die Hauptzielgruppe können weitere Zielgruppen, insbesondere Kinder und Jugendliche (auch aus bildungsfernen Milieus, mit und ohne Zuwanderungsgeschichte), deren Familien sowie LehrerInnen und ErzieherInnen, Bundesfreiwilligendienstleistende und FSJ`ler ebenso wie MultiplikatorInnen erreicht und über alle Phasen des Vorhabens in die konkrete Projektarbeit mit eingebunden werden.


Der Zugang zu allen Zielgruppen, die für das Modellvorhaben von Relevanz sind, ist somit gewährleistet.


7. Arbeitsschritte und Meilensteine


PROJEKTPHASE 1: Empirisch-kooperative Entwicklung des PräventionsangebotsZusammen mit den Kooperationspartnern werden Expertengespräche und Tiefeninterviews (Meilenstein 1) sowie standardisierte Befragungen mit Teilnehmenden der Kooperationspartner über Selbstdeutungen, GMF, Israelkritik und Judenfeindschaft geführt (Meilenstein 2), ein gemeinsames Kernangebot erstellt und auf einem Workshop der Fachöffentlichkeit vorgestellt(Meilenstein 3).


PROJEKTPHASE 2: Erprobung und Überarbeitung der PräventionsangeboteEs werden modular aufgebaute Präventionsangebote für mindestens drei verschiedene Zielgruppen der Kooperationspartner fertig gestellt (Meilenstein 4) und im Team-Teaching mit mindestens drei verschiedenen Kooperationspartnern und ihren Teilnehmenden erprobt (Meilenstein 5a-c). Auf der Grundlage dieser Erfahrungen werden die Angebote überarbeitet und fertiggestellt (Meilenstein 6).


PROJEKTPHASE 3: Regionale Durchführung und Übernahme in RegelstrukturenEs werden mindestens drei Fortbildungskonzepte für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure entwickelt (Meilenstein 7a-c), Multiplikatorenschulungen durchgeführt (Meilenstein 8a-c) und 10 weitere Anwendungen des Präventionsangebots mit den zuvor Fortgebildeten und ihren Teilnehmenden supervidiert (Meilenstein 9a-j), überarbeitet und in die Regelstrukturen überführt (Meilenstein 10a-c). Es wird eine umfangreiche Dokumentation mit Materialien über alle Präventionsangebote und Fortbildungen erstellt (Meilenstein 11).


PROJEKTPHASE 4: Landesweite Durchführung von Multiplikatorenschulungen


PROJEKTPHASE 5: Bundesweite Durchführung von MultiplikatorenschulungenJeweils Durchführung von drei Multiplikatorenschulungen (Meilensteine 12/15a-c) und Supervision der zuvor Fortgebildeten beim ersten Einsatz der Präventionsangebote mit ihren Teilnehmenden (Meilensteine 13/16a-j) nebst Überarbeitung und Übernahmeberatung der Leitung (Meilensteine 14/17).


8. Pädagogische und wissenschaftliche Standards


Pädagogische Standards:Unsere Kooperationspartner sind zertifiziert und staatlich anerkannte Träger der Weiterbildung oder Jugendhilfe. Mit Blick auf die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung orientieren sich Träger und Kooperationspartner – über gesetzliche Vorgaben und übliche Qualitätsstandards hinaus – an je eigenen Wertedimensionen und qualitativen Leitbildern zur Sicherstellung guter Arbeit. Für die Ansprache und die Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind vor allem die Prinzipien Freiwilligkeit, Akzeptanz, Transparenz und Vertrauen verbindlich. Die Schnittmenge der fachlichen Standards für das Arbeitsleben betrifft menschliches Miteinander und Toleranz, kollegialen Umgang, gegenseitige Wertschätzung und Annahme, Vertrauen und Freundlichkeit sowie Eintreten für eine Gesellschaft, die solidarisch und auf demokratischem Wege Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit anstrebt.


Um über die konkrete Projektarbeit hinaus eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, sollen gemeinsam erarbeitete und erprobte Projektergebnisse in die Konzepte, Leitbilder und Qualitätsstandards der Kooperationspartner einfließen, z.B. im Hinblick auf die Weiterführung ihrer interkulturellen Öffnung und Etablierung eines Diversity-Management-Systems.


Wissenschaftliche Standards:Das RISP e.V. als ein vom Wissenschaftsministerium des Landes NRW anerkanntes An-Institut der Universität Duisburg-Essen ist den Standards guter wissenschaftlicher Praxis verpflichtet.


Im Projekt werden wir uns über die Antisemitismusforschung hinaus an der Politischen Kulturforschung und der Religionspolitologie orientieren, um dem Hauptziel, der Entwicklung, Erprobung u. Verbreitung neuer Präventionsangebote gegen religiös, politisch und sozial bedingte Formen von Antisemitismus gerecht zu werden. Denn unterschiedliche kulturelle wie religiöse Prägungen indizieren stärkere oder schwächere Demokratiefähigkeit bzw. distanz. Phänomene von politisierter oder vorgeblich politisch bzw. vorgeblich religiös legitimierter Judeophobie gilt es als solche zu erkennen. Die Besonderheit der Verknüpfung von Politischer Kulturforschung und Religionspolitologie besteht darin, dass nach der politischen Bedeutung von Kultur und Religiosität der Menschen für ihr jeweiliges Bewusstsein von der gesellschaftlichen Ordnung gefragt wird. Ausgehend von der religiösen ebenso wie der kulturellen Selbstwahrnehmung der Menschen kommt es darauf an zu ermitteln, welche politischen Implikationen die unterschiedlichen Formen ihrer Selbst und Fremdbilder aufweisen. Diese wiederum sind konstitutiv für Verabsolutierungen, Vereinseitigungen, Ethnisierungen, Identifikationen sowie Projektionen und als motivationale Grundlage für gruppenbezogene Formen von menschenfeindlichen Entgleisungen zwecks wirksamer und erfolgversprechender Präventionsarbeit zu berücksichtigen.


Obschon es sich bei dem hier vorgestellten Modellvorhaben nicht um die Fortführung eines bereits geförderten Projekts handelt, so können wir dennoch inhaltlich, pädagogisch-methodisch und kooperativ an unsere bisher durchgeführten DFG und BKA Forschungsprojekte und BQF, XENOS, VIELFALT und TFKS Modellprojekte auf vielfältige Weise anknüpfen.


So hatten wir letztere z.B. bereits in einem Kooperationsverbund als Tandemprojekte mit Wissenschaft-Praxis-Austausch und Akteuren aus politischer Bildung und Sozialarbeit umgesetzt. Doch können wir nicht nur auf einen bewährten und daher belastbaren Kooperationsverbund zurückgreifen. Durch die Vernetzung interkultureller wie interreligiöser Orte der Bildung in einer Region können methodisch der gesamte lokale Raum für erlebnis- und diversitätsorientierte Formen der Bildung und Begegnung quer zu kollektiven Zugehörigkeiten ebenso wie die Methodenvielfalt unserer Kooperationspartner erneut genutzt werden. Bewährt hat sich auch der Zielgruppenzugang über staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure.


In den Vorgängerprojekten standen allerdings hinsichtlich der Zielsetzung Präventions- und Fortbildungsangebote gegen die Ethnisierung von Religion und Kultur und damit gegen alle Formen von religiös wie kulturell bedingter Menschenfeindlichkeit im Mittelpunkt. Inhaltlich fanden vor allem Islamismus, Islamophobie und Nationalismus Beachtung. Die Bekämpfung des Antisemitismus erfolgte eher am Rande. Diesmal werden umgekehrt und erstmals Maßnahmen gegen aktuelle Formen des Antisemitismus im Zentrum stehen. Um religiös, politisch wie sozial bedingter Judenfeindschaft effektiv entgegenwirken zu können, wird es wiederum erforderlich sein, dabei rechtsextreme Orientierungen, Islamophobie und antireligiöse Affekte zu beachten. Zudem kommt es abermals darauf an, sorgfältig zwischen Islamkritik und Islamophobie zu differenzieren, ohne dabei Zusammenhänge zu ignorieren. Erstmals gilt dies auch für das Spannungsfeld von Israelkritik und Judenhass.